Roman Signer: Zeitschmied
Rachel Withers
Man hat Signers Werken mit dem Etikett „Zeitskulptur“ versehen. Das Anliegen, das sie mit der traditionellen Skulptur teilen, ist die handwerkliche Gestaltung physischer Materialien in drei Dimensionen; doch sie erweitern dieses Anliegen zu dem, was man als die vierte Dimension bezeichnen könnte oder auch nicht , die Dimension der Zeit. Zeitskulptur untersucht die Verwandlung der Materialien durch die Zeit, lenkt das Augenmerk des Betrachters auf die Erfahrung des Ereignisses, die dadurch geschaffenen Veränderungen und die daran beteiligten Kräfte. Mit ihrer abwechslungsreichen Kombination von dreidimensionalen Objekten, Live-Action, Standbildfotografie und filmischer Dokumentation umrahmen Signers Zeitskulpturen Episoden, die von der Eindämmung und Freisetzung von Energie handeln, stets mit Raffinesse, häufig mit fesselnder, epigrammatischer Rasanz und unwiderstehlichem Humor. In Mütze mit Rakete (1983) etwa verbindet eine Schnur ein Feuerwerk mit einer Strickmütze, die Signer sich übergezogen hat. Das Feuerwerk wird gezündet, schießt in die Luft, reißt dabei die Mütze mit und gibt so den Blick auf das Gesicht des Künstlers frei. In Hocker Kurhaus Weissbad (1992) sorgt eine kleine Explosion dafür, dass ein vierbeiniger Hocker aus einem Fenster katapultiert wird; der Hocker segelt durch die Luft und landet krachend auf der Erde. In Kamor (1986) erzeugt eine Pulverexplosion auf dem Gipfel eines kleinen Berges im Schweizer Kanton Appenzell einen Flammenschein und eine Rauchwolke und lässt den Gipfel so einen Moment lang wie einen aktiven Vulkan erscheinen. In Aktenkoffer (1989/2001) geht ein mit Beton gefüllter Aktenkoffer auf eine kurze Reise in einer schnellen Maschine, einem Hubschrauber, um genau zu sein. In einer Höhe von etwa hundert Metern wird sie abgeworfen. Wie ein Meteorit plumpst sie auf ein grasbewachsenes Feld und hinterlässt dort einen tiefen Krater im Rasen.
So einfach! Und tatsächlich ist der Schritt von der Skulptur zur Zeitskulptur in mancher Hinsicht erfreulich einfach: elementar, um mich eines Begriffs zu bedienen, den der Künstler im Hinblick auf sein Werk häufig gebraucht. Angesichts der verblüffenden Unmittelbarkeit und poetischen Anschaulichkeit von Signers Werken können kritische Kommentare mitunter überflüssig wirken, wie die stumpfsinnige, beckmesserische Erläuterung eines perfekt getimten, wunderbar treffsicheren Witzes. Den Kritiker lässt der Verdacht nicht los, eine ‚erklärte’ Zeitskulptur könnte eine missverstandene Zeitskulptur sein, um eine Formulierung Simon Critchleys aufzugreifen. Ausgehend von einer anscheinend beschränkten Palette von Prozessen und Materialien gelingt Signer eine Poetik, deren Bandbreite vom Melancholischen zum Aufregenden, vom Liebenswürdigen zum Gewaltsamen, vom Ernsthaften zum unwiderstehlich Albernen reicht, und zu vielen Punkten nördlich, südlich, östlich und westlich dieser Gefühlskoordinaten.
© Rachel Withers 2007, Auszug aus:
Withers, Rachel, 'Collector’s Choice. Roman Signer (engl.). Volume 07', Cologne: Dumont Literatur und Kunst Verlag, 2007